„Die neue Ökobilanz ist eine Bestätigung“
Ökobilanzen sind eine wichtige Orientierungshilfe, wenn es um die Bewertung der Nachhaltigkeit von Produkten und Dienstleistungen geht. Erstmals seit über 20 Jahren liegen nun neue Zahlen für den Vergleich von Recycling- und Frischfaserpapier vor. Ingo Strube vom Bundesumweltministerium erklärt, was die neue Ökobilanz des Umweltbundesamtes aussagt und warum reine Zahlen nicht genügen, um für Recyclingpapier zu werben.
Herr Strube, nach über 20 Jahren publizieren Sie eine neue Ökobilanz für grafische Recyclingpapiere. Warum braucht es diese?
Das Bundesumweltministerium ist Zeicheninhaber des Blauen Engels. Wir haben eine Verantwortung für das Umweltzeichen. Mittlerweile gibt es den Blauen Engel für über 100 Produkte und Dienstleistungen. Aber Recyclingpapier mit dem Blauen Engel hat eine ganz besondere Bedeutung, es ist quasi unser „Signature Product“, der Markenkern des Blauen Engels. Viele Menschen verbinden den Blauen Engel mit Recyclingpapier und haben über Recyclingpapier den Kontakt zum Blauen Engel gefunden. Man vertraut dem Signet. Bundesumweltministerium und Umweltbundesamt fördern Recyclingpapier im Rahmen der öffentlichen Beschaffung, weil wir vom Produkt und seiner ökologischen Vorteilhaftigkeit überzeugt sind.
Trotzdem, warum brauchte es eine neue Ökobilanz?
Natürlich wollen wir die eigenen Überzeugungen auch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen legitimieren lassen. Darum haben wir mit dem ifeu ein renommiertes Institut mit der Ökobilanzierung beauftragt. Das ist aber keine Auftragsarbeit, sondern so ein Institut arbeitet völlig unabhängig nach höchsten wissenschaftlichen Standards. Darum ist der Blaue Engel auch nach über 40 Jahren noch glaubwürdig.
Und wie fassen Sie die Resultate zusammen?
Die Studie ist eine Bestätigung dessen, was wir seit Jahrzehnten praktizieren: andere von der ökologischen Vorteilhaftigkeit von Recyclingpapier gegenüber Neufaserpapier zu überzeugen. Wir wollen den Einsatz von Recyclingpapier aktiv fördern, aber auch fordern. Zum Beispiel im Rahmen der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung. Die Studie ist – zum Glück – eindeutig. Eine zentrale Aussage der Studie lautet: „Es ist wesentlich umweltfreundlicher, grafisches Papier aus recycelten Fasern herzustellen, als neue Fasern aus Holz als Rohstoff zu verwenden.“ Wer wenig Zeit hat, dem genügt diese Aussage. Nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist das eine Bestätigung für den Blauen Engel und für Recyclingpapier. Darum wird das Bundesumweltministerium weiterhin ein klarer Fürsprecher und Förderer von Recyclingpapier mit dem Blauen Engel bleiben.

Ingo Strube, Bundesumweltministerium (Foto: privat)
Neben den quantitativen existieren erstmals auch qualitative Aussagen zu den Themen Biodiversität, Landnutzungswandel und Kohlenstoffspeicherung. Wie sind diese Ergebnisse einzuordnen?
Es ist immer herausfordernd, Konsument:innen nur mit rationalen Argumenten oder nackten Zahlen zu überzeugen. Im Vergleich zu Frischfaserpapier spart Recyclingpapier mehr als 75 Prozent Wasser, zwei Drittel Energie und 15 Prozent CO2-Emissionen. Das allein sind schon sehr gute Gründe, auf Recyclingpapier zu setzen. Aber die neue Ökobilanz schaut sich noch weitere, qualitative Aspekte an: Biodiversität, Landnutzungswandel und den Wald als natürlicher Kohlenstoffspeicher. Es zeigt sich, dass unser Konsumverhalten einen direkten Einfluss auf diese Aspekte hat.
Können Sie den Mechanismus erklären?
Recyclingpapier reduziert den Bedarf an Frischfasern und nimmt den Druck von unseren Wäldern. Bäume können länger stehen bleiben und mehr CO2 speichern. Viele Menschen wissen gar nicht, woher eigentlich der Zellstoff für Frischfaserpapier kommt, der für unser Papier verwendet wird. In Deutschland etwa stammen 75 Prozent davon aus dem Ausland: Brasilien, Chile, Uruguay, USA. Zellstoff kommt auch aus Schweden, Finnland, Portugal und Spanien. Die Produktion in diesen Ländern kann auch mit einer veränderten Landnutzung einhergehen, etwa der Umwandlung von Primärwäldern.
Was bringen diese zusätzlichen Informationen?
Die Zahlen sprechen schon eindeutig für Recyclingpapier, doch zusätzlich haben wir dank der Ökobilanz Argumente erhalten, die Konsumentinnen und Konsumenten auch emotional berühren können. Denn wer will schon, dass für sein oder ihr Hygiene-, Schreib- und Kopierpapier Zellstoff aus Südamerika zu uns transportiert werden muss? Wir wissen viel über die reale Gefahr von Landnutzungsänderungen in dieser Region. Wer nicht Teil dieser fragwürdigen Lieferkette sein will, der kauft Recyclingpapier. Das Produkt ist auch ein Papier der kurzen Wege. Beim Blauen Engel werden wir dieses Argument kommunikativ noch stärker in den Vordergrund rücken: Es geht nicht nur um Zahlen, um den Verstand, sondern eben auch um Emotionen, ums Herz.
Die Aussagen sind offenbar sehr eindeutig. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für Sie aus der neuen Ökobilanz?
Zuerst bin ich mal froh, dass wir keine neuen Konsequenzen aus der Studie ziehen müssen, die unserer bisherigen Arbeit am Blauen Engel widersprechen würden. Die Ergebnisse der Studie sind eine neue wissenschaftliche Legitimation für unseren Einsatz. Es ist viel Zeit – selbstkritisch muss ich sagen: wahrscheinlich zu viel Zeit – vergangen seit der letzten Ökobilanz.
Was ist an der Ökobilanz so wichtig?
Auch im Jahr 2022 gibt es noch Vorbehalte und alte Klischees, was Recyclingpapier angeht. Es braucht noch immer viel Überzeugungsarbeit, zum Beispiel bei Beschafferinnen und Beschaffern. Wir erhoffen uns von der Studie einen neuen Schub für Recyclingpapier, bei Gemeinden, Städten, Landkreisen und Hochschulen, aber auch bei Privaten, Haushalten und im schulischen Bereich.
Weiten wir den Blick etwas. Die Studie liefert auch Zahlen für andere Fasern. Die Ökobilanz nimmt etwa Stellung zu alternativen Faserstoffen. Ist es denkbar, dass es dereinst einen Blauen Engel für Graspapier gibt?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Der Blaue Engel zeigt immer das aus ökologischer Sicht beste Produkt einer bestimmten Kategorie. Bei den grafischen Papieren kann deshalb nur Recyclingpapier den Blauen Engel bekommen.
Somit ist Graspapier gar nicht so umweltverträglich?
Nein. Das Schöne an einer Ökobilanzierung ist ja, dass sie Produkten, die vermeintlich ökologisch vorteilhaft sind, gerne mal die Luft rauslässt. Da zeigt sich, dass Bambuszahnbürsten oder Graspapier eben doch keine nachhaltigen Alternativen sind. Sogenanntes Graspapier ist zunächst ein Frischfaserprodukt. Es schadet dem seit Jahrzehnten in Deutschland etablierten Papierkreislauf. Kleine Mengen sind unkritisch. Aber zu viel davon in der Blauen Tonne verhindert ein hochwertiges Recycling. Für das Bundesumweltministerium ist deshalb klar: wenn Papier, dann Recyclingpapier mit dem Blauen Engel.
Das vollständige Interview ist im PapierPodcast „Neue Ökobilanz – Frischfaser- oder Recyclingpapier?“ zu hören. Diese gekürzte und leicht redigierte Abschrift ist in der Zeitschrift Ecopaper 2/22 erschienen.